In diesem Artikel beschreibe ich Sachen, die in einigen Ländern als illegal gelten. Mein Plädoyer, diese Dinge tun zu dürfen – mit dem Risiko danach bestraft zu werden – soll nicht als Anstiftung zu einer Straftat interpretiert werden. Es geht ausschließlich darum unterschiedliche Möglichkeiten zu vergleichen, wie Staaten dafür sorgen, dass sich die Bevölkerung an Gesetze hält. Für mehr Details verweise ich auf meinen Hinweis zu Rechtsthemen.
Dieser Artikel entstand kurz nach einer sehr interessanten philosophischen Unterhaltung mit einer smarten Frau in Mexico über den möglichen Zustand unserer Welt in zehn Jahren. Damit die Gedanken „frisch“ bleiben, erscheint dieser Artikel der Serie Montagsmeinung ausnahmsweise mal am Mittwoch.
Im Rahmen dieser Unterhaltung beschrieb ich meinen Wunsch für die Welt in den kommenden zehn Jahren so, dass uns die Möglichkeit erhalten bleiben sollte, gegen Gesetze und Regeln zu verstoßen – natürlich unter der Prämisse, dass wir dann auch die Konsequenzen für diesen Verstoß tragen müssen.
Was genau damit gemeint ist, soll der Vergleich der öffentlichen Verkehrsmittel in unterschiedlichen Ländern zeigen.
Während man z.B. in Spanien oder den USA in der Regel vor dem Einsteigen in eine U-Bahn vorher durch eine Absperrung gehen muss, die prüft ob man ein gültiges Ticket besitzt (und einfach den Weg zum Zug ohne ein solches Ticket nicht frei gibt), oder man im Bus stets vorne einsteigen muss um den Fahrpreis zu bezahlen, fehlt es in Deutschland (oft) an solchen Vorkehrungen. Man kann am Bahnhof einfach so in die S-Bahn einsteigen oder auch die hinteren Türen am Bus nutzen (außer in manchen Städten nach einer gewissen Uhrzeit).
Was zuerst nach einem trivialen Unterschied aussieht, zeigt aber beim genaueren Hinsehen, wie unterschiedliche Länder die Einhaltung von Regeln umsetzen.
Während das spanische oder amerikanische System von sich aus zu einer geringen Möglichkeit führt, ohne Ticket überhaupt den Zug oder Bus zu betreten und damit die Ordnungswidrigkeit des „Schwarzfahrens“ zu verwirklichen, erlaubt es Deutschland genau diese Ordnungswidrigkeit zu begehen, und will durch Kontrollen und hohen Strafen beim erwischt werden davon abschrecken, ohne Fahrkarte zu fahren. Man hat in Deutschland aber viel einfacher die freie Wahl, ob man das Risiko eingehen möchte oder nicht, während es in den Ländern, die auf die technische Vermeidung setzen vergleichsweise schwer ist, das Risiko überhaupt eingehen zu können.
Etwas subtiler finden wir ein ähnliches Phänomen in den digitalen Algorithmen von Social Media Plattformen. Während zu Beginn dieser Plattformen meist galt, dass man erst einmal alles dort veröffentlichen konnte und später ein Team von „Moderatoren“ einzelne Beiträge begutachtet und ggf. gelöscht hat, wenn diese gegen Gesetze oder die Regeln der Plattform verstoßen, ermöglichen heute immer öfter automatisierte Inhaltsfilter, dass man gewisse Dinge gar nicht erst veröffentlichen kann (z.B. anhand von Schlüsselbegriffen, Digital Rights Management, uvm.) oder man dies zwar noch kann, aber diese Inhalte von den Plattformen an niemand anderen ausgespielt werden (sog. shadow banning).
Was hier durch Technologie – egal ob analog oder digital – geschaffen wird, ist eine Mauer aus Zuckerwatte, die einen Menschen schon auf dem Weg in ein unerwünschtes Handeln vorher abbremst, bzw. privatwirtschaftlich schon dafür sorgt, dass man gar nicht mehr gegen das einem unbequeme Gesetz verstoßen kann, selbst wenn man das möchte.
Man mag dagegen halten, das solche Inhaltsfilter in einigen Bereichen vielleicht eine Berechtigung haben (z.B. beim Thema Kinderpornografie), doch wenn man einmal damit beginnt, wo setzt man die Grenze des „guten Geschmacks“.
In den vergangenen Tagen haben wir an der Sperrung des Twitter-Accounts des ehemaligen US Präsidenten Donald J Trump einen sehr grenzwertigen Präzedenzfall erlebt, wozu große private Unternehmen in der Lage sind. Unabhängig davon, was man vom ehemaligen Präsidenten oder seinen Äußerungen halten mag, sollten wir uns überlegen, ob wir es zulassen wollen, dass private Unternehmen der Justiz zuvorkommen und kritische Meinungen oder kontroverse Inhalte bzw. gleich komplette Personen blockieren oder ausschließen. Einfach von einer Plattform auf eine andere zu wechseln löst diese Dilemma immer nur kurzfristig, da wir die grundlegende Frage ob und wie das Befolgen von Regeln und Gesetzen umsetzt werden soll mitnehmen. Auch wenn die Regeln einer Plattform oder die Gesetze eines Landes uns gewogen sind, löst es nicht das Problem an sich, sondern wir persönlich sind nur gerade nicht von diesen Auswirkungen betroffen. Dafür aber vielleicht viele andere, die unsere Meinung zu Regeln und Gesetzen nicht teilen.
Die durchaus nicht einfache Frage, die wir als Menschheit für uns beantworten müssen ist, ob wir die Freiheit des anderen so hoch ansetzen, dass dieser öffentlich auch unpopuläre oder gar illegale Dinge veröffentlichen können sollte, seien es extreme Beispiele wie die Leugnung des Holocaust, die Erstürmung des Capitols oder die Abschaffung des Frauenwahlrechts, oder ob wir unsere (Meinungs-)welt lieber mit Zuckerwatte umgeben, um ja keine zu starken Abweichler vom „Mainstream“ zuzulassen, sei es beim Twittern, auf Demonstrationen oder beim Schwarzfahren.
In Verbindung mit diesen unterschiedlichen Ansätzen Regeln und Gesetze zu befolgen steht die bedenkliche Tendenz, immer mehr Entscheidungen, die unsere Leben bestimmen an Algorithmen oder „künstliche Intelligenz“ zu binden.
Dieser technische Ansatz zieht in mittelbarem Maße einzelne Personen aus der Verantwortung für bestimmte Regeln und Konsequenzen (z.B. „das hat der Algorithmus selbst gelöscht“) so dass sich kein Mensch mehr finden lässt, mit dem man individuell diese Entscheidung diskutieren – und ggf. eine Änderung herbeiführen – kann. Einem menschlichen Ansprechpartner könnte man die Beweggründe für seine Entscheidung gegen Regel bzw. Gesetz zu verstoßen darlegen und dieser könnte, wenn er die Argumentation nachvollziehen kann, „Gnade vor Recht“ ergehen lassen, von einer weiteren Verfolgung absehen oder den Bruch der Regel dulden. Ein Computeralgorithmus ist dazu bisher nicht fähig.
Wenn wir es bisher als Menschen schon nicht schaffen, Konsens über dieses Thema, ob und wie man Regeln und Gesetze brechen können sollte, zu schaffen, wie sollen wir das erst einem Computer beibringen und dann hoffen, dass dieser im Sinne der Regeln handelt. Daher bleibt zu hoffen, dass wir auch im Jahr 2030 noch keine so starke künstliche Intelligenz haben, dass wir Entscheidungen wie diese an Computer abgeben können. Dazu scheint „die Menschheit“ einfach noch nicht reif genug zu sein.
In der Vergangenheit wurden oft große Fortschritte (aber natürlich auch Rückschritte) der Menschheit dadurch erzielt, dass sich Menschen nicht an Regeln gehalten haben oder bestehende Systeme in Frage stellten. Schließen wir ein solches Verhalten gegen die Regeln schon von Beginn an aus, könnten wir die Menschheit in ein Zeitalter des Stillstands oder – noch schlimmer – eines von wenigen großen Konzernen gelenkten „Fortschritts“ führen, wobei die Interessen dieser Konzerne nicht im Interesse der Allgemeinheit stehen dürften.
Am Ende bleibt noch das in einem anderen Artikel beschriebene Problem der Demokratie: Wollen wir, dass die Mehrheit (oder ein Computer, der von der Mehrheit programmiert wird) beschließen kann, was die Minderheit denken, sagen und tun kann (und gemeint ist kann und nicht darf)?
Ich für meinen Teil wünsche mir, dass ich auch noch im Jahr 2030 die Möglichkeit haben werde, ohne Fahrkarte in eine U-Bahn zu steigen oder öffentlich unliebsame Inhalte zu teilen, ohne von der Mauer der Zuckerwatte beschränkt zu werden.