Wenn ich dich fragen würde, wie gut du die Welt verstehst, würdest du mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit antworten, dass du von den wichtigen Dingen durchaus glaubst Ahnung zu haben oder dass dein Verständnis der Welt ausreicht um gut in der Welt zurecht zu kommen.
Jetzt versuche mir aber mal auf diese 10 Fragen eine fundierte, und vor allem vollständige , Erklärung zu geben (0hne dabei in Wikipedia oder einer anderen Quelle nachzuschlagen):
- Wie genau funktioniert es, dass dein Essen in der Mikrowelle warm wird, dein Teller aber nicht?
- Wie genau funktioniert eigentlich der Treibhauseffekt?
- Warum genau ist ein wenig Inflation besser als gar keine oder zu viel?
- Wie genau funktioniert das eigentlich mit den Bienen und den Blumen?
- Warum genau führt Übergewicht zu einer größeren Chance einen Herzinfarkt zu bekommen?
- Wie genau berechnet man die Gewinnwahrscheinlichkeit beim Roulette und warum sind hier Ergebnisse Vergangenheit kein Garant für die Prognose der nächsten Zahl?
- Warum genau vergeht die Zeit auf der ISS eigentlich minimal langsamer als auf der Erde?
- Wie genau funktioniert eigentlich Email?
- Warum genau kocht Wasser bei 100 Grad Celsius?
- Warum genau ist gestern der Dow Jones Index um X Punkte gefallen, Bitcoin aber um X% gestiegen?
Vermutlich kannst du zu den meisten Themen zumindest zwei oder drei erklärende Sätze sagen, doch wenn es jetzt darum ginge, zu jeder Frage eine vollumfassende Erklärung schriftlich zu geben, die das jeweilige Thema lückenlos erklärt kommen wir in der Regel bei der Mehrheit der Fragen in die Verlegenheit zu sagen „so ganz genau weiß ich das auch nicht“ und ergänzen vielleicht etwas wie „ich muss nicht wissen wie das alles im Detail funktioniert um es für mich nutzen zu können“.
Am zweiten Satz ist natürlich etwas wahres dran. Um eine Email zu versenden musst du nichts vom SMTP Protokoll oder Ports wissen oder wie eine TLS Verschlüsselung funktioniert, um heißes Wasser für deinen Tee zu kochen nichts über Bindungskräfte zwischen Teilchen und fürs Zocken im Casino nichts über Erwartungswerte und „ziehen mit zurücklegen ohne Beachtung der Reihenfolge“.
Doch das Phänomen, dass wir IOED (illusion of explanatory depth – Die Illusion der Erklärungstiefe) nennen, also dass wir glauben die Welt um uns genau erklären zu können obwohl wir gerade einmal oberflächlich etwas Grundwissen davon haben birgt ein großes Risiko:
Aufgrund von vermeintlichem Tiefenverständnis treffen wir unfundierte Entscheidungen oder bilden uns Meinungen über die Welt.
IOED führt dazu, dass wir uns für schlauer als andere halten, obwohl wir am Ende genau so wenig Ahnung von einem Thema haben, oder – viel schlimmer – lehnen alternative Erklärungsmodelle der Welt ab, weil unser bruchstückhaftes Wissen nicht zu den Puzzleteilen der „Gegenseite“ passt. Doch auch wenn es gar nicht darum geht unterschiedliche Meinungen gegeneinander abzuwägen hindert uns die Sicherheit von IOED, dass wir die Welt schon gut genug kennen daran, uns noch weiter zu bilden, also sowohl noch mehr wertvolle Details über ein Thema hinzuzulernen als auch in Eigenrecherche Fehler in unserem oberflächlichen Wissen zu korrigieren. Denn es ist psychologisch wesentlich einfacher, sich vor sich selbst einzugestehen etwas falsch verstanden zu haben, als dass einen jemand anderes mit der Nase darauf stößt.
Unsere Welt ist zu komplex, um alles vollständig zu verstehen
Unsere (noch) begrenzte Lebenszeit ist zu kurz um die komplette Wikipedia einmal durchzulesen und danach alles verstanden zu haben, also müssen wir Prioritäten setzen. Wir müssen auswählen, welche Themen wir „vollständig“ verstehen wollen und für welche wir akzeptieren, dass wir für immer unter IOED leiden werden. Ob es wichtiger ist die Feinheiten des mexikanischen Steuerrechts zu kennen, die Auswirkungen von Farbschattierungen auf unsere Emotionen oder die Gründe für die beste Kombination von Bestandteilen deiner Nahrung kannst nur du für dich selbst beurteilen. Der Weg geht in allen Fällen weg vom „Universalgelehrten“ zum Spezialisten, der von einer ganz bestimmten Subnische einfach „alles“ weiß. Denn genau diese Spezialisten ergänzen sich dann mit ihrem Wissen optimal.
So kann dir der Autor dieser Zeilen ausgiebig über Steuergestaltungen und Vermögensschutz referieren, wäre jedoch für einen Vortrag über Farblehre, Einrichtung nach Feng Shui oder Autotuning ein komplett wertloser Ansprechpartner.
Mit die beste Strategie um IOED bewusst im Alltag zu begegnen ist wieder einmal Pareto bzw. genau genommen Pareto im Quadrat:
- Für alle Dinge, die du nicht wirklich verstehen musst oder willst wendest du überhaupt keine zusätzliche Zeit auf. Du musst nicht wissen wie die Farbe in die Pixel deines Smart-TVs kommt um eine Dokumentation anzuschauen.
- Für Dinge, die dein Leben durch etwas tieferes Wissen verbessern können wendest du ca 40 Stunden für die Vertiefung deines Wissens auf. Pareto im Quadrat besagt, dass du nach diesen 40 Stunden in diesem Thema besser als der Durchschnitt bist. Dabei ist es gleich ob es dabei um Tennis spielen, Auto reparieren oder Aktienanalyse geht. Du bis weiterhin kein Experte, aber dir ab diesem Moment den Grenzen deines Wissens um ein vielfaches bewusster.
- Für ein einziges Thema dass dein Leben maßgeblich beeinflussen soll investierst du 10000 (zehntausend!) Stunden Lebenszeit. Ab diesem Zeitinvestment gehörst du zu den besten deiner Zunft und hast IOED für diesen Bereich nahezu ausgeräumt.
Gerade dieser Sprung von 40 auf 10000 Stunden ist hingegen, was sog. „Scannerpersönlichkeiten“ zum Verhängnis wird. Irgendwo zwischen 40 und 100 Stunden kommt man nämlich an die IOED Wand der Komplexität, ab der es mehr als linear schwieriger wird neues in dem Bereich dazuzulernen und immer mehr Inhalte miteinander zu verknüpfen. Und da ist eine Ablenkung – oh schau, ein Schmetterling! – immer willkommen und man beginnt lieber mit einem anderen Thema wieder bei „null“, denn was wäre, wenn diese neue Thema viel erfolgreicher, spannender, gewinnträchtiger, etc ist als das aktuelle?
Im Privatleben nennt man solche Personen „vielseitig interessiert“. Während es schön sein kann, egal ob beim Golf, beim Schach, beim Karaokesingen oder Kochen dabei sein zu können wird man mit „nur“ 40 Stunden Einsatz eher durch Glück als durch können im Spiel gewinnen oder ein herausragendes Menü produzieren.
Am Ende ist das ultimative Gegenmittel gegen IOED der Ausspruch von Sokrates:
Ich weiß, dass ich nichts weiß!
Und sobald du weißt, was du alles nicht weißt, füllt eine Beratung bei Lifestyle Solutions ein paar Wissenslücken.